Liebe Waldweg-Leser*in,
ich kann mich noch gut an meinen ersten Aufenthalt in Grützdorf erinnern. Damals, es war Ende April, hatte ich mein erstes Wochenende in Vogelsprache bei der Wildnisschule Hoher Fläming gebucht, ich freute mich auf sonnige Tage und Naturverbindung.
Am Ende schneite es, ich fror erbärmlich in meiner Strickjacke und zweifelte daran, ob ich jemals etwas von Vogelsprache verstehen würde. War diese ganze Wildnispädagogik Ausbildung nicht eher eine Schnapsidee?
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Das ist neun Jahre her. Seitdem ist einiges geschehen, die Wildnispädagogik Ausbildung habe ich trotz dieser Erfahrung gemacht und dabei habe ich den Platz in Grützdorf in allen Jahreszeiten kennen und lieben gelernt. Jetzt, im Sommer ist er besonders schön, darum wird das Ritual zur Sommersonnenwende hier stattfinden.
Letzten Freitag bin ich zur Vorbereitung dahin gefahren, packte mein Auto mit Schlafsack und Isomatte, und brach auf, gen Osten.
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Grützdorf empfing mich mit all seiner Pracht. Überall blühte der Holunder, in den Wiesen wogten die Gräser im Wind, auf dem Apfelberg summten die Bienen. Fülle wohin mein Auge nur blickte, der passende Ort für die Sommersonnenwende.
Dabei ist Fülle nichts, was diesem Ort in die Wiege gelegt wurde, der Name verrät es schon. Das Grütze in Grützdorf steht nämlich nicht für Getreidebrei, sondern für “Bruchstein” und bezieht sich auf die Qualität des Bodens. Mit anderen Worten: Der Boden in Grützdorf ist (wie im gesamten Hohen Fläming) karg. "Ländeken, was bist du für ein Sändeken", soll Martin Luther über die Landschaft gesagt haben. Nur wenig wollte hier auf dem brandenburgischen Sandboden gedeihen. Stattdessen wurden Schafe gezüchtet, und das jahrhundertelang, von der Besiedlung durch die Flamen im 12. Jahrhundert bis zur Wiedervereinigung 1990. Noch heute finden sich überall im Boden Schafsknochen.
Schafe gibt es jetzt keine mehr in Grützdorf. Dafür unzählige Lebewesen, die woanders längst vertrieben worden sind. Rauch- und Mehlschwalben brüten in den Scheunen, das Schwarzkehlchen in der Totholzhecke, der Wendehals auf den Streuobstwiesen. In den Wiesen blüht das Johanniskraut, der Holunder schlägt überall aus.
Letztere brauchen übrigens keine fruchtbaren Böden, ganz im Gegenteil, Johanniskraut und Holunder, diese beiden großen Helfer und Heilpflanzen, wachsen nur auf magerem Grund.
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Manchmal frage ich mich, ob das nicht auch für unser Leben gilt: Ob nicht gerade auf dem mageren Boden das Heilende wächst, ob nicht aus den schwierigen Momenten, die Fülle entstehen kann. Ob nicht in der Wunde der Schatz liegt.
Zumindest für mich stimmt das. Dieser erste Vogelsprachekurs hatte mich nicht nur wegen der Kälte so herausgefordert, sondern auch, weil er mir gezeigt hatte, wie schwierig es für mich wurde, wenn ich etwas nicht wusste. Wie sehr ich mich über Leistung definierte.
Das war zuerst gar nicht so einfach zu verdauen. Mit der Zeit erkannte ich, was der Schatz darin war: Die Einsicht, dass ich auch dann, wenn ich etwas nicht gut kann, gut genug bin.
Das mag vielleicht banal klingen, für mich war es aber ein großes Geschenk, mich in meiner Verletzlichkeit zu erfahren und dadurch anzunehmen.
Warum das so wichtig ist, formuliert die von mir sehr verehrte Autorin Marica Bodrožić in ihrem neuen Essayband „Die Rebellion der Liebenden“ so:
„Um Veränderungen wahrzunehmen und sie zulassen zu können, ist es vonnöten, die eigene Verletzlichkeit zu kennen, sich mit ihr zu unterhalten und von ihr zu lernen, und nicht sie wegzudrücken, sie also wieder ins Unbewusste zu verdrängen.“1
Genau so ist es mir ergangen: Das Erkennen der Wunde hat die Veränderung möglich gemacht - und mir paradoxerweise den Mut gegeben, genau das zu machen, worin ich gut bin: Geschichten zu weben, zu erzählen und zu schreiben.
Das führte kurioserweise dazu, dass ich inzwischen ein Buch über Vogelsprache geschrieben habe. Nicht weil ich jetzt besonders gut darin wäre, das ist nicht der Fall. Aber ich habe gelernt, Experten (in diesem Fall dem grandiosen Paul Wernicke, dem Leiter der Wildnisschule Hoher Fläming) zuzuhören und ihre Geschichten zu erzählen. Das kann ich und das ist gut genug.
Inzwischen höre ich nicht nur den Menschen und den Vögeln zu, sondern auch der Landschaft und lausche, welche Geschichten sie erzählt.
Dafür bin ich letzten Freitag in Grützdorf gefahren. Pauls Vater, der Künstler, Thomas Wernicke erzählte mir etwas über die Geschichtes des Platzes und seiner Bewohner. Dann ging ich hinauf auf den Apfelberg und ließ mich einsinken in die Landschaft, fragte mich, welche Geschichten in ihr wohnten und erzählt werden wollten. Was war das Thema dieser Sommersonnenwende an diesem Platz? Es würde um Fülle gehen, das war klar …
Abends, als die letzten Vögelgesänge verklungen waren, und die Nacht sich langsam über den Platz senkte, machte ich Feuer und wartete. Im Schein der Flammen fingen die Geschichten an, miteinander zu reden. Die Stimmen verwoben sich immer dichter bis schließlich ein Teppich daraus wurde; und mit einem Mal war alles da: die Fülle in der Grütze, der Schatz in der Wunde. Das Ritual war geboren.
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Am nächsten Morgen nahm ich die Fäden wieder auf, lief alle Wege des Platzes ab, bis sich ein großes Netz von Geschichten darüber legte und ich alles vor mir sehen konnte. Zutiefst erfüllt konnte ich nach Hause fahren.
Einen Tag später las ich bei Marica Bodrožić folgenden Satz, mit dem ich sehr in Resonanz gehe:
„Ich kann sehen, dass eine Wunde mir nicht meine Würde nimmt, sondern mich mit besonderen Augen beschenkt. Die Verletzlichkeit weitet das rebellisch Liebende in mir und verhilft mir dazu, allem Äußeren zum Trotz, die Vision und den Glauben an das Gute nicht aufzugeben und den Kräften der Verwandlung zu vertrauen.“2
Den Kräften der Verwandlung zu vertrauen, das ist heute überlebensnotwendig. Denn das Bild von Fülle, das uns unsere Gesellschaft vorgaukelt, ist kein gesundes, keines, das unsere geliebte Erde für unsere Kinder und Kindeskinder erhalten wird. Wir brauchen dringend ein neues Verständnis von Fülle und die Kraft, Veränderungen zuzulassen und ihnen zu vertrauen.
Dafür und darum mache ich Rituale.
Wenn du möchtest, kannst du dabei sein, zwei Plätze sind momentan noch frei. Hier erfährst du alles weitere. Anmeldeschluss ist am 14.06.24.
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Wer nicht in Grützdorf dabei sein kann, ist herzlich eingeladen zum Jahreskreisgeschichten Abend am 18.06. online. Darin wird es um Hintergründe der Jahreskreisfeste, die Vereinnahmung der Sommersonnenwenden durch die Nationalsozialisten sowie um europäische Bräuche und Traditionen gehen. Es wird ein Abend voller Geschichten und Geschichte und ich freu mich schon darauf, sie alle zu erzählen.
Anmeldeschluss für den Geschichtenabend ist am 17.06., dann versende ich den Zoom Link .
Alle Informationen dazu findest zu hier:
Das war meine Geschichte von den Vorbereitungen des Rituals. Ich bin schon sehr gespannt, wie sich der Teppich der Geschichten weiter weben wird, und wie die Fülle des Platzes uns beschenken wird.
Falls wir uns nicht sehen, wünsche ich dir einen schönen Sommer, ich werde nach dem Ritual eine Pause einlegen.
Alles Liebe dir für deinen Weg und bis bald.
Herzlich,
Kathrin
Marica Bodrožić, “Rebellion der Liebenden. Von der Verwandlung unserer Denkens in unsicheren Zeiten”, Btb 2024, S. 57.
Marica Bodrožić, “Rebellion der Liebenden. Von der Verwandlung unserer Denkens in unsicheren Zeiten”, Btb 2024, S. 58.